Unsere Ostseestädter können durchaus auf eine erfolgreiche Historie zurückblicken. Der FC Hansa Rostock ist seit der Wiedervereinigung der erfolgreichste Klub der ehemaligen DDR und verbrachte 12 Jahre in der Bundesliga. Wenn man sich im Kontext mit den großen Klubs unseres Landes vergleicht, ist man absolute Mittelklasse – Rang 20 in der ewigen Bundesligatabelle seit 1990, Europapokalteilnahmen und Abstiege bis in die Drittklassigkeit. Was diese Statistiken nicht ausdrücken: man hält einen beeindruckenden Rekord, welchen man eher im Vereinsmuseum der Bayern vermuten würde. Der 19. Oktober 2008 geht nicht nur in die Geschichtsbücher der Hansestädter ein, sondern bleibt ganz Fußball Deutschland in Erinnerung. Die letzte Sternstunde, bevor die Talfahrt endgültig einsetzte. Der Tag, an dem Hansa Rostock die TuS Koblenz in alle Einzelteile zerlegt.
Fassungslosigkeit und Ekstase in der DKB-Arena
Sonntagnachmittag, kurz vor 16 Uhr in Rostock. 11.500 fassungslose Fans sitzen auf den Rängen der DKB-Arena, keiner kann glauben, was gerade geschehen ist. Schaut man als Fan am heimischen Fernsehen in den Teletext, glaubt man, Zeuge eines Tippfehlers zu sein. Denn der Endstand, der auf den Bildschirmen der Republik flimmert, scheint unglaublich – NEUN zu Null. Hansa Rostock schenkt dem Ligarivalen aus Koblenz Neun (9!) Buden ein.
Man könnte ja meinen, dass das passieren kann, wenn Spitzenreiter auf Schlusslicht trifft. Doch zieht man die Vorzeichen in Betracht, wird die Geschichte noch deutlich kurioser. In der Vorwoche hat Rostock beim Aufsteiger Ingolstadt völlig verdient 4:2 verloren. Die TuS Koblenz hingegen hat Aufstiegsanwärter Kaiserslautern 5:0 (!) besiegt. Bitte was? Nochmal: am Spieltag der Woche zuvor hat Koblenz 5:0 gegen Kaiserslautern gewonnen. Dementsprechend schickt Trainer Uwe Rapolder auch dieselbe Elf auf den Rasen. Für Hansa hingegen spielt eine Truppe, welche ohne Probleme als Rostock-Legenden-Team auflaufen könnte: Jörg Hahnel im Tor, Dexter Langen, Benjamin Lense, Orestes und Bastian Oczipka komplettieren die Defensive. Auf der Doppelsechs agieren Martin Retov und Mario Fillinger, die Flügel bekleiden Kevin Schindler und Finn Bartels. Im Sturmzentrum spielten Hansa-Legenden Enrico Kern und Djordije Cetkovic. Eine Aufstellung, die in mir absolutes Retro-Feeling hervorruft.
Das Debakel nimmt seinen Lauf
Und ähnlich geil, wie diese Namen in meinen Ohren klingen, tritt die Mannschaft von Frank Pagelsdorf, seines Zeichens ebenfalls Hansa-Legende, auf. Von Beginn an agiert man druckvoll, Koblenz ist nur aufs Verteidigen bedacht. Nach 14 Minuten vereitelt Koblenz-Schlussmann Yelldell die Führung, indem er überragend im Eins-gegen-Eins gegen Enrico Kern pariert, den Retov mit einem Weltklasse-Pass in Szene setzte. Doch ein gut aufgelegter Schlussmann reicht an diesem Tag nicht, um die Rostocker Recken zu stoppen. In der 21. Minute flankt Retov einen Freistoß aus dem Halbfeld in den Strafraum und Innenverteidiger Orestes vollendet – 1:0 für die Ostseestädter.
Hansa setzte den Koblenzern permanent zu und übte hohen Druck aus. Dennoch brachte man sich beinahe selbst um den Lohn der harten Arbeit, Torhüter Hahnel wirft den Ball einem Gegenspieler vor die Füße, über zwei Stationen kommt Bajic an die Kugel und setzt diese Zentimeter am Kasten vorbei.
An diesem Tag sollte alles klappen. Erneut wurde ein langer Ball geschlagen, der sein Ziel Enrico Kern punktgenau erreicht. Dieser leitet zu Bartels weiter, welcher wenige Meter vor dem Strafraum gefällt wird. Daraus resultiert ein Freistoß in der Gefahrenzone und der Beginn der Sternstunde des jungen Kevin Schindlers. Die Leihgabe von Werder Bremen nagelt den Ball aus rund 20 Metern humorlos in den Winkel und erzielt damit eines der besten Hansa-Tore, die ich je bestaunen durfte. Spätestens ab diesem Moment waren die schwachen Koblenzer gebrochen. Wenige Minuten später verhindert Torhüter Yelldell das nächste Traumtor, nachdem Bartels aus 23 Meter abschloss.
Doch das 3:0 war nur eine Frage der Zeit. Nach einem Doppelpass zwischen Kern und Cetkovic ist Letzterer durch und bugsiert das Leder in die Mitte, Schindler legt den Ball per Hackentrick an Gegenspieler und Torhüter vorbei und Enrico Kern drückt die Kugel über die Linie.
Als Reaktion auf das Gegentor stellten die Koblenzer um und kamen tatsächlich nochmal gefährlich vor das Tor. Hartmann taucht völlig frei vor Hahnel auf, setzt die Kugel jedoch über den Kasten. Und damit endet die erste Halbzeit. Hansa ist zwar klar auf der Siegerstraße, aber was nun passieren sollte, hatte wohl keiner erwartet.
Die TuS Koblenz zerfällt in alle Einzelteile
Die Koblenzer Mannen haben 15 Minuten Zeit, um sich zu sammeln und ein Debakel abzuwenden. Es darf durchaus die Frage gestellt werden, was in der Kabine passiert, denn sie kommen noch schwächer aus der Pause. Innenverteidiger Wiblishauser vertändelt den Ball leichtfertig gegen Schindler, der im 1-gegen-1 jedoch am herausragenden Yelldell scheitert. Der Koblenzer Torhüter ist der Einzige, der sich an diesem Tag gegen die drohende Blamage aufbäumt. Doch ein Duell 1 gegen 11 kann man nicht für sich entscheiden, das 4:0 ließ nicht lange auf sich warten – die aus der Parade resultierende Ecke schlägt Retov punktgenau auf den Kopf von Orestes. Der brasilianische Innenverteidiger komplettiert den Doppelpack und malträtiert die Restmoral der blau-schwarzen von der Mosel. In den nächsten Minuten steht wieder Yelldell mit Mittelpunkt. Der amerikanische Keeper pariert gegen Schindler, nachdem dieser mustergültig halbrechts im Strafraum von Cetkovic bedient wurde. Schindler stand zwar im Abseits, aber in dieser Fußballurzeit war der Videoschiedsrichter noch kein Thema und der Assistent hatte die Abseitsstellung nicht bemerkt.
2008 hatte Pep Guardiola gerade als Barcelona Trainer begonnen, doch man könnte meinen, dass sich Pagelsdorfs Jungs viel von der Blaugrana abgeschaut haben. Eine überragende Passstafette rund um den Strafraum bringt den Ball an den rechten Strafraumrand, wo Schindler erst einen Koblenzer ausfummelt und den anderen durch einen Doppelpass mit Cetkovic ins Leere laufen lässt. Der U21-Nationalspieler bricht nun durch, will am Rand des 5-Meter-Raums nochmal quer legen. Bevor Enrico Kern oder Finn Bartels an den Ball kommen, wird die Kugel von einem Koblenzer Abwehrbein ins leere Gehäuse bugsiert.
Wem es bis hierhin nicht kurios genug war, kommt jetzt auf seine Kosten. Nach einer Flanke tauchen 2 Koblenzer Angreifer frei im Strafraum auf. Statt die Kugel aus 7 Metern über die Linie zu bringen, behindern sich beide beim Abschluss, der Ball trudelt nach außen. Schindler schnappt sich das Leder dort und schlägt den nächsten überragenden Pass über 60 Meter auf den startenden Bartels, der seinen Gegenspieler stehen lässt und rechts im Strafraum den herausstürmenden Yelldell überlupft und seinen eigenen Ball anschließend einköpft.
Vor diesem Spieltag kassierte die TuS aus Koblenz gerade einmal sechs Gegentore (!). Diese Zahl wurde schon jetzt verdoppelt, doch das Spiel war lange noch nicht vorbei. Die Koblenzer hatten jedoch schon längst mit der Partie abgeschlossen und legten sich die Dinger quasi selber ins Netz. Linksverteidiger Lomic wird auf rechts von zwei Rostockern gepresst und will die Kugel nach innen spielen. Sein unpräziser Ball kann vom Mitspieler nicht verarbeitet werden, Enrico Kern lässt Yelldell per Körpertäuschung aussteigen, nimmt das Leder auf und vollendet ins leere Tor.
Da sich nun alles gegen die Pfälzer verschworen hatte, fiel ein glückliches Achtes für Hansa. Ecke von rechts, Pingpong im Strafraum, bis die Kugel vor die Füße von Benjamin Lense fällt, der nur noch einschieben muss. Koblenz ist indessen völlig gebrochen und schaut den Rostockern nur noch hinterher. Die kombinieren über Langen, Retov und Schindler erneut auf Rechts. Letzterer kommt schließlich an den Ball und flankt nach innen. Dort lauert der eingewechselte Lechleiter, der artistisch vollendet. Und da sind wir: Sonntag, kurz vor 16 Uhr. Hansa neun, Koblenz null.
Ein Spiel der kuriosen Geschichten
Der Tabellenzehnte hatte den Tabellenelften mit 9:0 besiegt. Wem diese Kuriosität noch nicht ausreicht: vor diesem Spiel hatte Koblenz die beste Defensive der Liga. Auch griff Trainer Rapolder zu einer ungewöhnlichen Maßnahme, auf dem Heimweg zeigte er seiner Mannschaft das Spiel gleich 3-mal in voller Länge. Dies geht beinahe als psychologische Folter am eigenen Team durch.
Auf die Frage, was an diesem Tag falsch lief, hatte niemand eine richtige Antwort. Und auch konnte niemand beantworten, warum die Kogge in dieser Saison nur einmal ihr ganzes Potenzial abrufen konnte. Außerhalb dieser Partie glänzte man kaum. Wenige Wochen später folgte eine 6:0 Klatsche in Kaiserslautern und Pagelsdorf musste gehen. Seinen Nachfolger bezeichnet mein Vater stets als Hansas schlechtesten Trainer – Dieter Eilts. Die Saison 2008/2009 war eine einzige Berg- und Talfahrt und damit der Beginn des sportlichen Absturzes unserer Kogge. Aber dazu mehr an anderer Stelle. Doch eine Sache darf nicht unerwähnt bleiben: Durch dieses 9:0 hält man den Rekord für den höchsten im Sieg im deutschen Profifußball seit 1990 sowie der eingleisigen 2. Bundesliga.