Turbulenter Start
„Ich muss jetzt liefern und nicht schnacken.“ Selbstbewusst und gewohnt ehrgeizig präsentierte sich Pieckenhagen schon bei seinem Amtsantritt am 6. Januar 2019, nachdem Cheftrainer Pavel Dotchev und Sportvortand Markus Thiele nach internen und sportlichen Diskrepanzen das Steuer verlassen mussten. Der langjährige Torhüter des Hamburger SV hatte gleich eine Mammutaufgabe zu bewältigen: ein neuer, ambitionierter Trainer musste her – und das so schnell wie möglich, da die Kogge als vermeintlicher Aufstiegsfavorit in der 3.Liga ins Niemandsland der Tabelle abgerutscht war und das Ziel bzw. das vom Verein eigens ausgerufene Motto „Gemeinsam nach Oben“ krachend zu verfehlen drohte. Vier Tage später präsentierte Pieckenhagen das erste Ergebnis seiner Amtshandlung und lotste den ehemaligen Cheftrainer der Magdeburger, Jens Härtel, an die Ostsee. Was noch keiner zu diesem Zeitpunkt ahnen konnte:
Die Kombi Härtel-Pieckenhagen sollte sich in der Zukunft als prägende Ära erweisen und stand u. a. für Kontinuität, Arbeitseifer und einem gesunden Steigerung – insbesondere auf sportlicher Ebene.
Kritik eingesteckt und verstummen lassen
Regelmäßige Umbrüche im Mannschaftskader waren jeweils zu Saisonbeginn keine Seltenheit. Besonders die Vorbereitungen für die darauffolgende Saison 19/20 gestalteten sich alles andere als einfach. Die insgesamt 19 Ab- und Zugänge (Winter-Neuzugänge mit eingerechnet) machten eine schon surreal wirkende Personalfluktuation perfekt. Mit den Verpflichtungen von Torhüter Markus Kolke, der zuvor in Wiesbaden für überragende Paraden sorgte, und Flügelflitzer Aaron Opoku machte Pieckenhagen das erste Mal so richtig auf sich aufmerksam. Doch die Offensive stotterte. Breier, Königs und die nicht gerade mit Kusshand von den Fans aufgenommene Neuverpflichtung, John Verhoek, konnten vorne in den ersten Spielen nicht wirklich überzeugen. Insbesondere Verhoek wurde zur Zielscheibe für den Fehlstart. Spätestens nach der 1:2 Niederlage zu Hause gegen den Chemnitzer FC am 19. Spieltag (Glöckner war zu diesem Zeitpunkt übrigens Trainer der Gäste) wurde nicht nur die Mannschaft und der Trainer angezählt: auch die Diskussionen um Pieckenhagen wurden indes immer lauter.
Doch der Aufsichtsrat setzte weiterhin auf die sportliche Führungsebene – und diese Entscheidung trug Früchte. Insbesondere die vollzogenen Leihen im Winter (Hanslik, Granatowski) sorgten nochmal für einen ordentlichen Schwung für die Rückrunde und waren eine Bereicherung für die nun lebendige Offensivabteilung. Am Ende hieß es zum dritten Mal hintereinander Platz 6 nach einer Saison, die von der Corona-Pandemie im besonderen Maß ausgebremst und geprägt wurde.
‚Piecke‘ war bekannt für seine ehrliche, aber auch etwas brummige Art und Weise. Im finalen Saisonabschluss-Interview sagte er, dass ihm zum Schluss bei der Mannschaft die letzte Gier gefehlt habe – das letzte fehlende Puzzleteil, welches in der darauffolgenden Saison für den viel umjubelten Aufstieg sorgen sollte.
Volles Risiko wird belohnt
Nachdem sich Litka im Dezember 2020 gegen Ingolstadt schwer am Knie verletzte und die Kogge zwischenzeitlich auf Rang 8 abrutschte, jedoch immer noch in Lauerstellung lag (3 Punkte Abstand zu Rang 3), ging Piecke All-In: Er setzte ein klares Signal an die Mannschaft und an die Konkurrenz der Liga und holte die Stürmer Lion Lauberbach, Philip Türpitz (jeweils Leihen bis Saisonende) und Außenverteidiger Tobias Schwede ins Ostseestadion. Insbesondere die Verpflichtungen von Türpitz und Schwede sorgten für Aufsehen, da die beiden unter Härtel maßgeblich am Magdeburger Aufstieg beteiligt gewesen sind. Mit nun insgesamt 5 (!) ehemaligen Schützlingen unter Härtels Regie war die Richtung klar: volle Möhre auf Angriff! Und auch diese Verpflichtungen zeigten ihre Wirkung. Türpitz und Schwede wurden zu Dauerbrennern.
Letztgenannter steuerte dem FC Hansa drei wichtige Siegtreffer bei und war so auch dieses Mal entscheidend am dramatischen Aufstieg beteiligt – ein grenzenloser Jubel mit vielen Emotionen und Rauch, welcher das Stadion einhüllte. Und Pieckenhagen? Der stand etwas abseits des Geschehens und wurde schließlich nach seiner inneren Gemütslage befragt: „Bei mir rotiert es jetzt schon im Kopf für die neue Saison. Im Moment freue ich mich sehr! Man siehts zwar nicht, aber ich tue es.“ – ein sinnbildlicher Auftritt. Eben ein stiller, norddeutscher Genießer, der mit der Einfädelung entscheidender Transfers von Mentalitätsspielern großes Risiko eingegangen ist und am Ende belohnt wurde.
Der Tüftler
Und so hatte der Sportvorstand abermals eine Herkules-Aufgabe vor der Brust. Er musste eine schlagkräftige Truppe in relativ kurzer Zeit zusammenstellen, die den Giganten der Liga (Schalke, Bremen, HSV) ordentlich Paroli bieten kann. Und auch dieses Mal wurde der Kader ordentlich umstrukturiert. Insgesamt 16 Neuzugänge sollten es am Ende werden (Winter-Neuzugänge mit eingerechnet).
Der absolute Königstransfer: Hanno Behrens – der mit Abstand erfahrenste Spieler, gemessen an den 2. Liga-Einsätzen sowie langjähriger Publikumsliebling beim 1. FC Nürnberg. Pieckenhagen scheute auch nicht, einen Tag vor Saisonstart noch einen Spieler zu verpflichten: Calogero Rizzuto. Und dieser konnte sich auch gleich am 1. Spieltag gegen Karlsruhe beweisen. Das Spiel von Hansa war geprägt von Mentalität und Einsatz; keine Schönspielerei. Und genau das wollten die Fans im heimischen Stadion sehen. Die Mischung stimmte und vor allem Neuzugänge Behrens und auch Ingelsson waren absolute Führungsspieler – und vorne schoss Verhoek quasi im Alleingang die Kogge zum Klassenerhalt. Dieser wurde letztendlich doch relativ souverän eingetütet, doch zu Beginn des Jahres 2022 sah sich Pieckenhagen gezwungen, nachzujustieren, da der Abstand zu den Abstiegsplätzen immer geringer wurde.
Der Verein schlug deshalb gleich vier Mal auf dem Transfermarkt zu und verpflichtete Danylo Sikan, Timo Becker, Robin Meißner und Nils Fröling. Allen voran Verteidiger Timo Becker, ausgeliehen von den Königsblauen, sowie der Schwede Fröling schlugen voll ein und entpuppten sich als echte Glücksgriffe. Während Becker auf den Außen so gut wie Alles wegverteidigte, sorgte Fröling u. a. auf Schalke für eine absolute Jubel-Explosion. Die Mannschaft passte im Gefüge von vorne bis hinten, von Kopf bis Fuß. Sicherlich gab es auch Fehlkalkulationen (Mamba), jedoch konnte dies noch aufgefangen werden.
Verzockt
Nach der gelungenen Premieren-Saison setzte Pieckenhagen auf spielerische Weiterentwicklung und verpflichtete mit Kai Pröger einen absoluten Leistungsträger vom SC Paderborn. Zudem wurde Sebastien Thill vor der Saison zum absoluten Königstransfer ausgerufen. Viele Hansa-Fans rieben sich verwundert die Augen, als man tatsächlich einen Champions-League Spieler verpflichten konnte, der gegen absolute Topmannschaften insgesamt zwei Mal traf (Real Madrid, Inter Mailand) und international für Furore sorgte – die Erwartungshaltung war demensprechend hoch. Allerdings schmerzte der Abgang von Hanno Behrens immens und riss ein großes Loch in das Mittelfeld der Kogge. Für die Ablösesumme von 200 Tsd. Euro holte man Morris Schröter und verpflichtete Lukas Fröde fest von Karlsruhe.
Doch nach gutem Start, zeigte die Formkurve gegen Ende des Jahres deutlich nach unten. Einzig und allein Kai Pröger ragte von den Neuzugängen so wirklich hervor. Thill, Schröter und Strauß wurden nach und nach zu Bankdrückern degradiert – und das zurecht. Als die Kogge nur noch ein 2 Punkte-Polster auf einen Abstiegsplatz hatte und man den Eindruck bekam, dass keine neuen Impulse mehr von Außen kamen, entschloss sich Pieckenhagen, zusammen mit der restlichen Führungsebene, Jens Härtel zu entlassen und Patrick Glöckner als neuen Cheftrainer zu verpflichten. Aus den ersten zwei Spielen holte Glöckner 4 Punkte – ein relativ guter Start. Doch die magere Torausbeute bereitete vielen Hansa-Fans weiterhin große Sorgen. Man hoffte auf Neuzugänge, aber die blieben aus. Piecke begründete diese Entscheidung folgendermaßen:
Grafik: Ole
Gezögert und doch geflogen
Und so verstrich die Zeit und die Rückrunde begann, in welcher Hansa zunächst gut mitspielte, aber kaum Zählbares mitnehmen konnte. Die ballorientierte Spielidee passte einfach nicht in das zweikampfbetonte Hansa-Spiel. Zudem hatte man als Außenstehender den Eindruck, dass Glöckner die Mannschaft nicht vollends abholen konnte. Nach dem desolaten 2:5 zu Hause gegen Düsseldorf wurde schließlich die Reißleine gezogen und Glöckner entlassen – eine Fehlkalkulation, die Pieckenhagen bei der Trainervorstellung von Alois Schwartz auch öffentlich zugab. Er blieb zunächst noch im Amt, doch nach der 2:3 Heimpleite gegen Kiel war auch sein Posten nicht mehr zu retten.
Der Zeitpunkt des Rauswurf ist ungewöhnlich (interne Probleme sind auch hier nicht auszuschließen); der Schlussstrich auf jeden Fall nachvollziehbar. Ein neuer Umbruch wartet bereits. Nur in welcher Liga? Und vor allem: Mit wem in der Führungsetage?