„Das wird heute ein sehr wichtiges Spiel für unsere Kogge!“, sagte mein Bruder, werkelnd in
unserer Garage. Ich, zu diesem Zeitpunkt 10 Jahre alt, verstand vom Fußball nur die
absoluten Basics. Der Ball ist rund und das Spiel dauert (normalerweise) 90 Minuten. 90
Minuten, wo zwei Mannschaften dem Spielgerät hinterherlaufen und versuchen, möglichst
zielgenau auf das gegnerische Tor zu schießen. Das war meine eher platte Vorstellung von
diesem Sport. Nicht mehr. Nicht weniger. „Warum? Es ist doch nur ein normales
Fußballspiel?“, antwortete ich total unbekümmert, während ich eher auf mein neues
Modellflugzeug konzentriert war. Ach ja…wie schön doch die Kindheit gewesen ist. Mein
Bruder hatte mir daraufhin mehrmals verzweifelt versucht zu erklären, dass das heute ein
sogenanntes Relegationsspiel ist und das Hansa, im Falle einer Niederlage, aus der 2. Liga
absteigt. „Absteigen? Das geht?“, dachte ich mir, hab es aber lieber dieses Mal für mich
behalten, weil ich ihn nicht noch mehr auf den Keks gehen wollte. Aber zum ersten und
gefühlt zum letzten Mal in meinem Leben habe ich mein 11 Jahre älteres Spiegelbild nervös
und hippelig erlebt. Und irgendwie steckte er mich damit an, je länger der 17. Mai 2010
dauerte. Denn: An diesem Tag nahm er mich mit. Mein erster Gang in ein Fußballstadion.
Vorspiel
Allmählich brach der Abend an und jetzt spürte ich es auch. Zum ersten Mal. Dieses Kribbeln.
Mein Bruder hatte mich den ganzen Tag mit Fußballfakten zugeschüttet, dass ich mich schon
fast als Experte gefühlt habe. Doch dem war natürlich nicht so. Vom Fenster aus betrachtete
ich faszinierend die aus der Ferne leuchtenden Flutlichtmasten, die ich die Jahre vorher
irgendwie nicht so ganz wahrgenommen habe. Mit Hansa-Schals ausgestattet ging es also
los. Je näher wir dem Stadion kamen, desto intensiver wurde dieser ganz spezielle Bier-
Rauch-Vorfreude-Geruch, der mich bis heute in den Bann zieht.
Noch 30 Minuten bis zum Anpfiff. Anstellen beim Bratwurststand. Und dann ging es rein.
Rein in das weite Rund. Mir viel die Kinnlade runter. Die Bratwurst übrigens auch. Wir hatten
Plätze im Ostblock. Und obwohl noch viel Zeit bis zum Anpfiff war, war das Stadion schon
fast bis auf den letzten Platz gefüllt. Mit einem Ohr nahm ich auch die einzelnen Gespräche
in den umliegenden Reihen wahr. Spätestens zu diesem Zeitpunkt habe ich gemerkt, dass es
an diesem Tag um sehr viel ging. Es war kein normales Fußballspiel. Es ging tatsächlich um
die Zukunft des Vereins. Das, was mir mein Bruder an diesem Tag versuchte zu erklären (er
war stets bemüht). 5 Minuten vor Anpfiff kam es zum endgültigen Gänsehautmoment: Hansa-Forever
schallte durch das Stadion. Alle erhoben sich und sangen lautstark mit. Mein Bruder erst recht. Ich hab
zumindest im dritten Anlauf „Hansa-Forever, für alle Zeit“ geradeso hinbekommen, während
die Mannschaften einliefen.
Anpfiff
Und dann ging es auch schon los. Der Schiedsrichter pfiff an. Und so
nahm das Gejage nach dem runden Leder seinen Anfang. Unser Team weiß gekleidet, die
anderen rot. „Irgendwas mit Audi-Stadt.“, erinnerte ich mich.
Es war zwar mein erster Stadionbesuch, aber dennoch merkte ich relativ schnell, dass die
Zuschauer mit dem Auftritt unserer Mannschaft nicht zufrieden waren. Unsere Kogge spielte
nicht gut. Und fing sich nach 8 Minuten schon das erste Gegentor. Die Anfangseuphorie
komplett verflogen. Pfiffe und wütende Rufe in Richtung der Spieler prägten in den nächsten
Minuten das Geschehen. Dennoch war ich gefesselt von dieser geladenen Stimmung. Mir
war das Gegentor irgendwie ein bisschen egal. Stattdessen klatschte ich wie wild in die
Hände und feuerte Hansa an: „Kommt schon. 2 Tore und schon seid ihr auf der
Siegerstraße!“, rief ich. Mein mittlerweile bedienter Bruder verbesserte mich umgehend:
„Wir brauchen leider 3 Tore, weil wir das Hinspiel bereits 0:1 verloren haben.“ Ich schaute
verdutzt: „Es gab vorher schon ein Spiel? Egal, dann schießen wir eben 3 Tore!“. Doch so
richtig besser wurde es nicht. Kurz vor der Halbzeit eine gute Chance durch Kern, aber der
Ball zischte über die Latte.
Durchschnaufen und weiter geht’s
Pause. Mein Bruder saß etwas bedröppelt auf dem Sitz. Alle ‚Das wird schon noch werden-
Versuche‘ schlugen eher fehl. Aber auch andere Fans kamen zu uns und machten uns mit
aufmunternden Worten für die 2. Hälfte heiß. Das fand ich bemerkenswert. Dieser
Zusammenhalt zwischen den Fans. Selbst in solchen Situationen. Als kleiner Bub ist mir das
schon damals nicht entgangen. 45 Minuten waren also noch zu spielen. Doch so richtig
besser wurde es auch dann nicht. Ich habe zwar nicht viel vom Fußball verstanden, aber ich
konnte erkennen, dass unsere Kogge sehr viele Fehlpässe spielte und einfach nicht viel
zusammenlief. Auf der anderen Seite hatten die Gegner Riesenmöglichkeiten zum zweiten
Tor, welches dann auch zehn Minuten vor Schluss fiel. Ich wusste, dass das Spiel entschieden
war.
Abpfiff und Erkenntnis
Als der Abpfiff ertönte, sackten unsere Spieler auf dem Feld enttäuscht zusammen.
Einige Fans verließen bereits das Stadion. Doch der Großteil blieb und versuchte die Spieler
mit aufbauenden Worten wieder aufzurichten, während die Gegner gar nicht mehr aufhören
konnten zu jubeln. Auch mein Bruder war sichtlich enttäuscht. Verständlicherweise.
An diesem Abend verstand ich, dass Fußball so viel mehr ist als nur das bloße Spiel an sich.
Jubel und Trauer liegen so dicht beieinander. Fußball ist Leidenschaft. Leidenschaft, die auf
dem Platz als auch auf den Rängen geteilt wird. Der Moment, wenn ein Tor für Hansa fällt
und ich zusammen mit den Fans feiern kann, ist bis heute ein unbeschreibliches Gefühl.
Spätestens, als etwa einen Monat darauf die Weltmeisterschaft in Südafrika stattfand und
unsere Jungs Platz 3 erreichten, ist der Fußball aus meinem Alltag nicht mehr wegzudenken.
Und dafür bin ich dankbar!
